Hunger
Über die Zuckerbabys von Kerstin Grether
Magersucht ist eine Lifestylemode geworden, und Kerstin Grethers Debutroman, die
Geschichte von Sonja, Mediendesignerin und angetreten in der Hamburger Popboheme,
um Sängerin zu werden in einer hippen Band, sucht sein bedrückendes
Thema in exakt dieser Sphäre plakativster Energie. Die Zuckerbabys verdanken
ihre glücklich realistische Perspektive einem überzeugenden Kunstgriff:
Kerstin Grether nimmt das Phänomen wörtlich. Die Magersucht beschreibt
sie als Drogensucht. In den Bildern makellos verschlankter Frauen konsumiert Sonja
das Glücksversprechen des Kapitalismus als hochgefährliches und hochdosiertes
Halluzinogen. Der Kapitalismus als Droge macht nicht nur Sonjas asketisch selbstzerstörerischen,
sondern auch ihre zustimmend lebenssüchtigen Kräfte darstellbar. So
kann der Roman seine bittere Kritik treiben, ohne dafür aus einem revanchistischen
Reservoir von Gemeinheiten und kleinen Gefühlen schöpfen zu müssen
- und im Gegenzug ohne Rücksicht auf kritische Einreden hingerissen sein.
Für so heikle Manöver muß man sich rüsten. Seit vielen Jahren
praktiziert Grether einen theoretisch informierten Kulturjournalismus an den unterschiedlichsten
Orten des Medienbetriebs - das distinktionsfanatische Popblatt Spex in seiner
legendären Frühneunzigerphase war genauso ihre publizistische Heimat
wie eine zeitlang der Mainstreamflow von MTV. Die ständige Exposition zur
Medienwelt hat ihrem Roman nicht nur seinen Reichtum gegenwärtiger Sprache
geschenkt, sondern die riotgirlige Vitalität, mit welcher Grether sich die
"Unterhaltungsindustrie" vornimmt, auf Angriffslust gestimmt. Im kundigen
Rundumschlag werden die Ursachen der Magersucht wahlweise in der Schönheitsindustrie,
den zerrütteten Elternehen, deprimierenden Kleinstädten oder demütigenden
Arbeitsverhältnissen nachgesucht.
Wie souverän die Zuckerbabys diese Form der droguierten Kritik beherrschen,
zeigt eine entscheidende Figur des Romans, das Model Melissa Meloda. Ihr wird
die Aufgabe übertragen, die zuletzt halbverhungerte Heldin aus dem Sog der
Magersucht zu befreien. Ausgerechnet die schöne Frau, das süße
Gift, der beneidete Feind findet im entscheidenden Moment das richtige Wort. Von
Melissa erkannt zu werden, erlöst Sonja von ihrem autoritären Projekt.
Daß der Roman ein Model so schön finden kann, wie es nun einmal ist,
in den unspektakulären Registern sozialer Teilnahme und ganz normaler Hilfsbereitschaft
zumal, überrascht. Weniger gerechte Bücher hätten dem Auftreten
solcher Fissuren der Empfindung im normalerweise solid geschlossenen Urteilsblock
keine Aufmerksamkeit geschenkt. Grether hat sie nicht nur bemerkt, sondern in
ihrer Geschichte zu systematischer Bedeutsamkeit gebracht.
Diese ungewöhnliche Ressentimentfreiheit hat eine für den Popbereich
nicht minder ungewöhnliche Quelle. Es finden sich düstere Passagen in
dem Buch. Ist der Roman zuerst auf eine manchmal sogar romantisch augenöffnende
Art milde poetisch, gerade in unscheinbaren Nebensätzen, gerade den schmählichen
Dingen des täglichen Lebens gegenüber, den Orangenschokoladen, Lidltüten,
Schwimmbadkassen, kippt er im zweiten Teil, wenn Sonja ungeschützt ihren
Krankheitsdelirien ausgeliefert wird, langsam ins harte Surreale. Die plappernde
Lustigkeit des Buches, seine ungezierte Freude am Abweichen, Lautspielen und Trödeln,
läuft ungerührt weiter, gruselt aber plötzlich. Die gekonnt vergifteten
Lyrismen dieser Hungerstrecken lassen ahnen, daß noch eine zweite Kraft
das Buch mitgeschrieben hat: die klassisch verstandene und ambitioniert gelesene
Literatur. Der Roman ist auf eine geradezu altmodische Weise tapfer. Seine verzweifelte
junge Heldin ist unduldsam mit sich, sie wird radikal und hart, aber resigniert
nie, und wird nirgends weinerlich. Bitter und wach bleibt sie in der Krankheit
bei ihrem puren Verlauf. Der fiktionale Roman gibt die notwendig diskrete Atmosphäre
dazu. Diese schützende Hülle ist offenbar selber schutzbedürftig.
Viele Künste werden von den Protagonisten der Zuckerbabys geübt, Rockmusik,
Comiczeichnen, Modeln, Kampagnejournalismus, Djing, nur nicht: die Literatur.
Grether hat das Offensichtlichste vor aller Augen öffentlich sichtbar verborgen
gehalten und versteckt. Die Zuckerbabys gehören ins zerbrechliche Genre des
experimentierenden, mit der Selbstheilung experimentierenden, und nicht bloß
abgebrüht gutgemachten, realistischen Romans.
Wahlverwandte hat Kerstin Grether dabei verschiedene für sich entdeckt, die
abgründige Unterhaltungsschriftstellerin Sylvia Plath des Glasglockenromans
etwa oder die zartvorsichtige und sozialgenaue Banana Yoshimoto. Eine dritte ist
vielleicht zu nennen: das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun. Zwanglos
ergänzen die Zuckerbabys der üblichen Popliteraturgeschichtsschreibung
in Deutschland die Erinnerung an dieses emanzipationsdrängende und lyrisch
überdrehte Buch aus einem versunkenen Berlin. Grether findet in Haltungen
zurück, welche im kindisch naseweisen Neodandysmus der neueren Popliteratur
der letzten Jahre zunehmend vergessen worden sind.
Daß für Sonja alles gut wird, ist aber natürlich trotzdem ein
Märchen. Heilung heißt: der Terror geht weiter. Die Droge bleibt auf
dem Markt. Das kunstseidene Mädchen am Ende seines Berliner Abenteuers ist
gründlich zerstört, ruiniert von demselben gefährlichen Stoff wie
Sonja, einer sträflichen Lebenslust, einer unpassenden Gier. Grethers Heldin
ernüchtert zwar auch, ist aber nicht mehr allein. Die kunstseidenen Mädchen,
in den jubilatorischen Zirkeln verschworener Popsubkulturen zumindest, sind viele
geworden. Und sie sind wirklich, was Irmgard Keun in einer Epoche vor Gender ihnen
bloß wünschen konnte: ein Glanz. Kleine, große, quirlige, goldige
Göttinnen der Popboheme hat Kerstin Grether mit ihrem Roman losgeschickt,
sehr wild, sehr süß (Zuckerbabys eben), sehr stark.